Formwandel repräsentativer Politik

von Thorsten Thiel

[Erstens] Wahlen werden oft als das Herzstück der Demokratie bezeichnet. In ihnen vollzieht sich die Mehrheitsbildung wie die Kontrolle der Repräsentierenden. […] Die ursprüngliche Erwartung lautete, dass Digitalisierung durch die Unmittelbarkeit von Datenübertragung und -auswertung neue Möglichkeiten demokratischer Beteiligung hervorbringen würde: häufigere oder komplexere Abstimmungen, mehr direktdemokratische Elemente, dazu das Versprechen sich ausweitender Beteiligung durch bequemer integrierbare Abläufe und eine allgemein höhere Informiertheit der Bürger und Bürgerinnen.

Diese Erwartungen wurden in weiten Teilen enttäuscht. […]

Zweitens verdeckte der Fokus auf Wahlen und Beteiligungsmöglichkeiten lange, dass ein viel weitreichender Formwandel der repräsentativen Demokratie im Gange ist. Dieser wird durch die Entwicklung unserer digitalen Gegenwart noch einmal entschieden verstärkt: die Rekonfiguration des Verhältnisses von Repräsentierenden und Repräsentierten.

Auf Seite der Repräsentierten kommt dies etwa in der Professionalisierung der Zivilgesellschaften zum Ausdruck, in der Ausweitung von Transparenz- und Responsivitätsforderungen (also dem Wunsch von Bürgern und Bürgerinnen nach unmittelbaren politischen Reaktionen) oder einem umfangreichen Petitionswesen […] Auf die demokratischen Institutionen wächst so der Druck ansprechbar und rechenschaftspflichtig zu sein, sprich: mehr Schnittstellen zu etablieren als Wahlen und die Beobachtung der öffentlichen Meinung.

Auch die Seite der Repräsentierenden verändert sich. Ein Beispiel hierfür ist der Wandel von Parteien. Deren interne Struktur spiegelt in auffälligem Maße die dominante Form öffentlicher Kommunikation. So haben sich Parteien in der Blütezeit des linearen Fernsehens stark an einer Gruppe von Spitzenpolitikern und -politikerinnen ausgerichtet, die Bedeutung der Parteibasis für die Organisation von Stimmen ging zurück. In der Gegenwart hingegen sehen wir einen Trend zu einer stärkeren inhaltlichen Bestimmung von Themen durch aktivistische Teile der Parteibasis, was seinen vielleicht deutlichsten Ausdruck im Entstehen von Plattformparteien findet – in Deutschland etwa die (kurzlebige) Piratenpartei […]

Eine weitere Facette dieses Wandels zeigt sich darin, dass im Kontext kommerzialisierter sozialer Netzwerke Anreize entstehen, Politik immer kleinteiliger und gezielter zu kommunizieren (Micro-Targeting). Dieses Zuschneiden und Isolieren geht einher mit einem Verlust des Kompromisscharakters demokratischer Politik […]

Wobei auch hier anzumerken ist, dass diese Tendenz weniger zwingend ist […] Unsere heutige Ausprägung der digitalen Konstellation ist eher durch eine unübersichtlich große Vielfalt von sehr unterschiedlich genutzten Möglichkeiten geprägt als durch eine generelle Verengung demokratischer Handlungsräume. Daher ist es wichtig, die Widerstandsfähigkeit demokratisch kompetenter Bürger und Bürgerinnen ebenso wie die Pluralität des Medienkonsums zu schützen und zu fördern.

Ein dritter Aspekt sei noch erwähnt, der an das Gesagte anschließt […]: die Veränderungen politischer Steuerungsweisen und Herrschaftsformen. Unsere Vorstellung von Demokratie ist eng verbunden mit der Steuerung durch das Recht, die Formulierung allgemeiner Gesetze, deren Sicht- und Anfechtbarkeit sowie die gleichmäßige Anwendung über alle Bürger und Bürgerinnen hinweg. In der digitalen Gesellschaft nimmt die Vielfalt wie die Effektivität alternativer Steuerungsmechanismen rapide zu.

Zunehmend werden unser Handeln und Verhalten automatisiert erfasst und klassifiziert […] Stichwort: Videoüberwachung und Gesichtserkennung. […] Bezüglich all dieser Entwicklungen wird die Frage nach der Legitimationsfähigkeit alternativer Steuerungsformen zu stellen sein. […]

Auszug aus: Thorsten Thiel: Demokratie in Zeiten der Digitalisierung. Veröffentlicht auf www.bpb.de am 22.2.2021

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